Wenn die Thesen des renommierten Ägyptologen Nicholas Reeves stimmen, dann wäre es eine Sensation. Laut einer neuen Theorie soll das Grab Tutanchamuns (KV62) eigentlich viel größer sein. Zuerst wurde Echnatons Nachfolger Semenchkare/Nofretete dort begraben und nach Tutanchamuns plötzlichem Tod schnitt man einfach einen Teil des Grabes ab und erweiterte es in einigen Bereichen für die Bestattung des Kindkönigs.
Reeves These beruht hauptsächlich auf den hochauflösenden Bildern von Factum Arte, die Tutanchamuns Grab Milimeter genau einscannten und eine Replik des Grabes anfertigten (heute zu sehen neben dem Howard Carter Haus in Luxor / Theben-West). Anfang 2014 stellte Factum Arte ihre Daten zur Verfügung. Auf den Bildern der Grabkammer sind auf den Wänden besondere Merkmale zu sehen, die auf zwei zugegipste Öffnungen schließen könnten.
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Besonderheiten von Tuts Grab
Doch kommen wir erst einmal zu den Besonderheiten von Tutanchamuns Grab. Für einen Pharao der 18. Dynastie ist das Grab erstaunlich klein. Es besteht nur aus vier Räumen und nur die Grabkammer wurde verputzt und bemalt. Bisher war es eingängige Lehrmeinung, dass durch den plötzlichen Tod Tutanchamuns in frühen Jahren eiligst ein Ersatz-Grab hergezaubert werden musste. Also nahm man einfach das Grab eines Beamten und dekorierte in aller Eile die Grabkammer.
80% der Haupt-Grabbeigaben gehörten nicht Tut
Im Gegensatz zu dem kleinen Grab mit den schlichten Bemalungen waren Tuts Grabbeigaben geradezu pompös, was die Qualität, die Auswahl und der Wert der Grabbeigaben betrifft. Doch einige der Schätze, die der Pharao mit auf seine Reise ins Jenseits nehmen sollte, waren ganz offensichtlich nicht für ihn bestimmt. Und das sind, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, mehr als bislang angenommen. Mindestens 80% der Haupt-Grabbeigaben sollen demnach jemand anderem gehört haben. Reeves unterteilt die „falschen“ Grabbeigaben in zwei Gruppen:
- einige Grabbeigaben, die für Echnaton bestimmt waren
- eine weitaus größere Anzahl an Grabbeigaben die für Echnatons Co-Regent bestimmt waren und die Kartuschen von Anchcheperure (+Epithethon) Neferneruaton (+Epithethon) tragen
Der Grund hierfür lag bisher klar auf der Hand: Durch den plötzlichen Tod Tuts musste alles herhalten, was in den Schatzkammern des Palastes verstaubte
So soll es denn zu den ungewöhnlichen Grabbeigaben und der ungewöhlichen Größe von Tuts Grab gekommen sein.
Wem gehörten die fremden Grabbeigaben?
Also wer war nun dieser mysteriöse Regent mit dem Namen Anchcheperure (+Epithethon) Neferneruaton (+Epithethon), von dem so viele Schätze in Tuts Grab gefunden wurde?
Um die Frage zu beantworten, muss man sich nur die Körperformen (manche Statuen haben ganz offensichtlich Brüste), die Ikonografie und die Inschriften genauer ansehen: es handelt sich um eine Frau.
Und hier liegt der Schluss nahe, dass die Grabbeigaben ursprünglich Neferneferuaten-Nofretete gehörten. Zuerst Co-Regentin Echnatons und anschließende Alleinregentin, zu dessen Anlass sie den Namen Anchcheperure Semenchkare-djesecheperu annahm.
Als Nofretete sich zum Pharao krönen ließ, konnte sie die alte Grabausstattung mit den Namen aus ihrer Co-Regentschaft beiseite legen und ließ sie durch eine neue, angemessene ersetzen, so Reeves Theorie.
Fakt ist, dass bis heute nicht das kleinste Fragment von Semenchkares Grabbeigaben gefunden werden konnte. Also wo liegt Semenchkare/Nofretete?
Nicholas Reeves glaubt Beweise dafür gefunden zu haben, dass die Pharaonin vor Tutanchamun in dem Grab KV62 bestattet wurde.
Die westliche Wand
Auf dem Negativ der westlichen Wand von Tuts Grabkammer (die mit den 12 Affen) kann man feine Linien erkennen, die laut Reeves auf einen versteckten Zugang hindeuten könnten. Zwei der Spuren liegen direkt neben der Nische mit den Zauberziegeln (magische Objekte mit Sprüchen des Totenbuches, in Tuts Grab war zu jedem Ziegel noch ein Amulett zugeordnet) und enden in einem 90 Grad Winkel zwei Drittel unter der Decke. Vielleicht ein Türrahmen? Eine weitere Auffälligkeit führt parallel zum Boden. Natürliche Formationen des Felsens enden hier aprupt, was den Eindruck einer zugegipsten Öffnung oder eines Blocks noch verstärken. Hier könnte also entweder eine Tür sein oder die natürlichen Felsformationen wurden entfernt und mit einem „künstlichen“ Block versehen.
Alle Formationen, seien sie natürlich oder unnäturlich, finden sich auch in anderen Eingängen wieder, wie bei Tuts Eingang zu der Schatzkammer oder dem Annex oder auch in Amenophis‘ III. Grab. Sie wurden einst verschlossen und mit Gips zugemörtelt. Von der Höhe her sind die Spuren ähnlich wie bei der Verbindung zwischen Vorkammer und Annex.
Könnte hier ein Nebenraum liegen?
Obwohl viele die Form von Tuts Grab als ungewöhnlich ansehen, ist das Grab von Form und Größe – wenn man es einmal um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn dreht – doch gleich mit den anderen Königsgräbern dieser Zeit. Nur haben die Gräber gewöhnlich vier Nebenräume auf 2, 4, 8 und 10 Uhr. Tuts Grab hat jedoch nur zwei Nebenkammern auf 2 Uhr (Schatzkammer) und 8 Uhr (Annex). Weil Tuts Grab stark nach rechts abknickt war, war ein Raum auf 4 Uhr wegen der Lage des Eingangskorridors nicht möglich (Reeves Begründung dafür findet ihr weiter unten) Der Raum auf 10 Uhr läge exakt dort, wo Reeves den Zugang vermutet.
In der westlichen Wand der Grabkammer könnte also der versteckte Zugang eines weiteren Nebenraums liegen, der gleichzeitig mit dem Annex und der Beisetzung von Tutanchamun entstanden ist.
Weitere Grabbeigaben oder Mitglieder der Königsfamilie?
Die Funktion dieser Nebenkammern war die von Lagerräumen, doch sie konnten auch zweckentfremdet werden, wie in dem Grab Amenophis III. geschehen. Genau wie der vermeintliche Eingang von Tuts Grab, liegt der Eingang zu der „Königinnenkammer“ bei seinem Großvater am Kopfende seines Sarkophages.
Die Kammer von Amenophis wurde ganz offensichtlich erweitert, um seiner Tochter und späteren Königsgemahlin Sitamun eine letzte Ruhestätte zu ermöglichen. Könnte dies auch in Tuts Grab geschehen sein und liegt hier noch ein Mitglied oder gar mehrere Mitglieder der Amarna-Familie bestattet?
Die Nordwand – Zugang zu Nofretetes Grab
Die Nordwand von Tuts Grabkammer zeigt u.a. seinen Nachfolger Eje bei der Mundöffnungszeremonie an Tuts Mumie. Auch hier finden sich auf den hochauflösenden Bildern von Factum Arte Unregelmäßigkeiten unter der bemalten Schicht, die Hinweise auf einen nachträglichen Verschluss geben könnten.
An einer Ecke der Wand befindet sich ein Riss, der von Verlauf, Größe und Beschaffenheit ähnlich wie bei einer künstlich errichteten Trennwand ist, die sich nachträglich setzt.
Auch auf der Nordwand befinden sich senkrechte Linien. Eine der Linien läuft exakt parallel zu der westlichen Wand der Vorkammer. Ursprünglich könnten Vorkammer und Grabkammer also einfach nur ein langer Flur gewesen sein.
Ob mit oder ohne langen Korridor: Das Grab knickt mehr nach rechts ab als nach links, was für ein Pharaonengrab dieser Zeit ungewöhnlich wäre, da diese eigentlich nach links abknickten. Nach rechts ausgerichtete Gräber finden wir jedoch bei Königinnen, wie Grab WA D von Hatschepsut, das sie noch bevor sie sich zum Pharao krönen ließ, erbauen ließ. Beide Gräber weisen also von ihrer Ausrichtung her eine große Ähnlichkeit auf. Für Reeves ist dies der Beleg, dass das Grab ursprünglich für eine Königin angelegt wurde.
Als Nofretete Co-Regentin wurde, musste der schmale Korridor breiter gemacht werden. Nur so konnten die langen und schweren Paletten für einen Außensarg transportiert werden, der ihrem neuen Stand würdig war.
An der nördlichen Wand soll sich also der versteckte Zugang zu einem bisher noch unentdeckten Teil des Grabes befinden, der weit in den Fels gehauen wurde. Hier wurde noch vor Tutanchamun ein Pharao zu Grabe getragen. Wenn man nach der Tradition der Königsgräber geht, könnten sich hinter der Nordwand noch ein Korridor, ein Vorraum und schließlich eine Grabkammer mit 2-4 Nebenkammern befinden.
KV 62 so wie wir es kennen, ist also im Prinzip ein Grab-in-Grab, wie Reeves es ausdrückt.
Die Wandmalereien
Auch in den Wandmalereien sieht Reeves Belege für seine Theorie. 2012 untersuchte das Getty Conservation Institute die Malereien genauer und stellte einige Unterschiede fest, die die Nordwand von den anderen Wänden unterscheidet.
Am signifikantesten ist die Tatsache, dass die Bilder auf der Nordwand auf weißem Grund gemalt wurden, während die Bilder der anderen drei Wände auf einem gelben (über den weiß gestrichenenen) Hintergrund gemalt wurden. Die gelbe Farbe, die wir heute auf der Nordwand sehen, ist im Nachhinein einfach um die Figuren herumgemalt worden, wie das Getty Conservation Institute herausgefunden hat.
Die Wand war also ursprünglich mal weiß und die Figuren wurden in dem für Amarna typischen 20er Raster aufgemalt, während die Figuren auf den anderen Wänden mit dem ansonsten typischen 18er Raster angelegt wurden.
Was ist die Funktion der Bilder?
Die Szenen auf der Nordwand werfen ebenfalls Fragen auf, wurden derartige vor Tut doch noch niemals in einer Grabkammer gefunden. Also was war die Funktion dieser Bilder? Mal angenommen, hinter der Nordwand geht das Grab noch weiter, dann könnten die Bilder eine Art rituelle Schutzfunktion für den dahinterliegenden Bereich sein und natürlich der Versuch, diesen zu verschleiern.
Dieser Trick ist auch aus anderen Gräbern des Neuen Reichs bekannt. In jedem Grab gibt es eine „Brunnenkammer“ (Reeves nennt sie hier „well“, sie war in der 18. Dynastie nur eine Kammer, früher aber ein Schacht in der Mitte des Grabes), die zu der Grabkammer des Pharaos führt und wo der Pharao in Begleitung der Götter gezeigt wird. Die Szenen „verstecken“ den dahinterliegenden zugemauerten Bereich. Doch in den Gräbern die wir kennen, sind diese versteckten Zugänge schon in der Antike freigelegt worden. Sehen wir in Tuts Grabkammer die erste unberührte Brunnenkammer?
Nofretete statt Tutanchamun abgebildet
Als Schlussfolgerung dazu muss die Nordwand also mit Szenen von Nofretete/Semenchkare bemalt sein. Die gelbe Farbe könnte die ursprünglichen Kartuschen der Pharaonin verdecken und die Gesichter (auch die Gesichter der Götter sind denen des Pharaos nachempfunden) weisen zudem deutliche Charakeristika von Nofretete auf. An der Seite des Mundes befindet sich eine Falte, die ganz typisch ist für spätere Darstellungen von Nofretete. Zusammen mit der geschwungenen Augenbraue, der Nase und einer geraden Kieferpartie mit einem leicht gerundeten Kinn weist das Bild eine große Ähnlichkeit zu anderen Abbildungen Nofretetes auf.
Doch nicht alle Figuren der Nordwand tragen diese Merkmale. Reeves hat auch dafür eine Erklärung: Als die Wand gelb übergestrichen wurde, bedurfte es einiger Korrekturen an den Figuren und die wurden nicht sehr sorgfältig durchgeführt. So tragen einige der Figuren auch heute noch die Züge Nofretetes.
Wer ist der Pharao, der das Mundöffnungsritual durchführt?
Der Pharao, der die Mundöffnungszeremonie durchführt, besitzt jedoch andere Merkmale. Es ist Tuts Nachfolger Eje, doch trägt er hier das typische Doppelkinn des Kindkönigs. Es ist die einzige Darstellung, die Eje so zeigt.
Ursprüglich war die Szene jedoch richtig, denn Tutanchamun führte bei seiner Vorgängerin Nofretete die Mundöffnungszeremonie durch. Die Gesichtszüge Tuts ließ man einfach so, doch dargestellt werden sollte Eje.
Schlussfolgerung
Reeves will mit seinen Beitrag nicht nur belegen, dass sich in dem Grab Tuts noch geheime Kammern befinden, sondern dass Nofretete als Semenchkare den Thron Ägyptens bestieg. Sie ließ sich als Pharaonin abbilden und der Flur (die spätere Vorkammer) musste erweitert werden, um die langen Panele eines Pharaonenschreins sicher in die Grabkammer transportieren zu können.
Vielleicht hat Nofretete sogar die Grabausstattung ihres Gatten übernommen, so eine These von Reeves. Die Grabbeigaben, die für sie als Co-Regentin vorgesehen waren hatten keinerlei Verwendung mehr und wurden nun in Tuts Grab verwendet.
Als Tut starb, wurde einfach Nofretetes Grab „umgerüstet“. Man strich die weiße Wand der „Brunnenkammer“ gelb, änderte die Namen, fügte Szenen an den drei anderen Wänden hinzu und funktionierte so die Vorkammer in eine Grabkammer um. An der Westwand versteckte man noch eine weitere Kammer mit Tuts Grabbeigaben oder vielleicht sogar mit weiteren Mitgliedern der Amarna-Familie. Zum Schluss wurden Nischen in die vier Wände für die vier magischen Ziegel eingelassen. Sie wurden vorsätzlich so unregelmäßig angelegt, damit sie in den natürlichen Felsen angelegt werden konnten und nicht in den zugegipsten Eingängen.
Eine faszinierende These, die doch eigentlich mit den heutigen technischen Mitteln leicht überprüft werden könnte (Stichwort Georadar), ohne gleich die ganzen Wände einzureißen. Es wäre zumindest einen Versuch wert, auch wenn es natürlich wieder Stimmen geben wird, die diese These widerlegen wollen.
Ein Einwand wäre z.B., warum Nofretete als Co-Regentin in Echnatons Hauptstadt, ausgerechnet ihr (vielleicht schon in frühen Jahren angelegtes Grab, als die Familie noch in Theben wohnte) Grab im Tal der Könige – wohlgemerkt nahe der früheren Hochburg Amuns – erweitern lassen sollte. Warum hat sie kein eigenes Grab in Amarna angelegt?
Eine zweite Möglichkeit wäre, dass das Grab Tuts zu seinem Todeszeitpunkt noch nicht fertig war. Der Korridor hinter der „Brunnenkammer“ wurde aufgegeben, sein Zugang zugemeißelt und die „Brunnenkammer“ als Grabkammer umbenutzt.
Der Original-Beitrag von Nicholas Reeves ist auf der Plattform academia.edu erschienen. Hier findet ihr detaillierte Informationen (auf englisch) und ganz vielen Fotos, die seine These belegen sollen.
Aktualisiert um 14.20 Uhr. Vielen Dank an Michael Habicht für die Hinweise
Sehr geehrte Frau Felske,
danke für den Beitrag „Liegt Nofretete noch unentdeckt in Tutanchamuns Grab?“ Ich lese Ihre Seite immer wieder gerne. Eine Bekannte aus Kairo hat mich gestern auf den Artikel von Reeves aufmerksam gemacht, der mich aus den Socken gehauen hat. Die Abhandlung von Reeves ist mehr als interessant. Zumal mir an dem Grab immer einiges spanisch vorgekommen ist, das sich nicht erklären ließ. Die Amarna-Zeit und Tutanchamun sind mein persönliches Steckenpferd innerhalb der Ägyptologie – und die sich ständig verändernden Ansichten aufgrund neuerer Forschung machen es nicht einfacher – aber vielleicht können viele Rätsel doch irgendwann gelöst werden.
Abgesehen von kleinen Tippfehlern, die im Eifer des Gefechts passieren, sollten Sie im Abschnitt „Wer ist der Pharao, der das Mundöffnungsritual durchführt?“ den Satz: „Ursprüglich war die Szene jedoch richtig, denn Tutanchamun führte bei seiner Nachfolgerin Nofretete die Mundöffnungszeremonie durch.“ ändern. Es muss heißen: Ursprünglich war die Szene jedoch richtig, denn Tutanchamun führte bei seiner VORGÄNGERIN Nofretete die Mundöffnungszeremonie durch. Oder aber: Ursprünglich war die Szene jedoch richtig, denn Tutanchamun führte als Nachfolger von Nofretete die Mundöffnungszeremonie durch.
Freut mich, dass Michael Habicht Sie unterstützt!
Mit freundlichen Grüßen
Stephanie Kaiser
Oh ja, der Fehler ist wirklich im Eifer des Gefechts passiert 😉 Vielen Dank für den Hinweis!
Hallo
Das wäre ja DIE Sensation! !
Klingt auf jeden Fall plausibel. Ist da was bekannt ob dem nachgegangen wird? Bitte auf dem laufenden halten. Also weiter so wie bisher.
Gibt es irgendwas neues über KV 63 bis KV65 ? Seit 2008 passiert da ja nicht mehr viel.
Viele Grüße
Ne, da gibt es leider nichts Neues. Aber natürlich halten wir euch hier auf dem Laufenden 😉