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Tätowierungen an Mumien und an Tonfiguren in Deir el-Medina

Dass es auch im alten Ägypten bereits Tätowierungen gab, ist schon seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt, als Eugène Grébaut eine weibliche Mumie namens Amunet aus Deir el-Medina untersuchte, an der er etliche Tattoos fand. Über die Forschung zu solchen Tätowierungen haben auch wir bereits zweimal berichtet. Nun gibt es erneut mehrere Funde an Mumien und sogar an Statuetten aus Deir el-Medina, die zeigen, dass die Tattoos in dieser Region Ägyptens eine Bedeutung hatten.

Bioarchäologin Dr. Anne Austin von der Universität in Missouri leitet seit 10 Jahren das Team in Deir el-Medina. Zusammen mit der Ägyptologin Dr. Marie-Lys Arnette von der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore veröffentlichte sie kürzlich im »The Journal of Egyptian Archaeology« ihre Forschung über Tattoos auf mumifiziertem menschlichen Gewebe und ebensolchen Darstellungen auf kleinen, weiblichen Statuetten aus Deir el-Medina. Dass sich die gleichen Motive an den gleichen Körperstellen sowohl an Mumien wie auch an Figurinen finden, kann nur bedeuten, dass die Tätowierungen eben nicht einfach nur fantasievoller Körperschmuck waren, sondern einem Zweck dienten. Welcher das ist, darüber können die Forscherinnen zum jetzigen Forschungs-Zeitpunkt aber nur Theorien aufstellen.

Tätowierungen auf Mumienteilen

Linkes Hüftbein der weiblichen Mumie 298.19.004 aus Deir el-Medina mit Tattoo, rechts als Infrarot-Fotografie. Fotos: A. Austin

Auf einem Hüftknochen, der im Grab TT298 zusammen mit anderen menschlichen Überresten gefunden wurde und der von einer älteren erwachsenen Frau aus dem Neuen Reich (19./20. Dyn.) stammen muss, ist ein Stück Haut mit einer Tätowierung erhalten. Es zeigt eine gepunktete und zwei durchgezogene Linien übereinander und darüber rautenförmige Abbildungen, über denen noch einmal Linien zu sein scheinen. Das längliche, horizontal ausgerichtete Motiv zeigt seitlich ein typisches Bild des Gottes Bes mit gebeugten Beinen und den Händen auf den Hüften. Daneben eine Schale mit einem Kegel aus parfümierten Fett, wie er von den alten Ägyptern auch gerne bei Festlichkeiten auf dem Kopf getragen wurde, wo er langsam schmolz und dabei das Parfum freisetzte. Dies ist von vielen Wandbildern bekannt.

Rekonstruktion der Tätowierung 298.19.004, schwarz: vorhandenes, hell: vermutetes Tattoo. Zeichnung: A. Austin

Das gefundene Tattoo stellt nur die linke Seite einer breiteren Tätowierung dar, die nach Meinung der Forscherinnen sich symmetrisch auf der rechten Hüftseite widerspiegelte und so einen Streifen auf dem unteren Rücken bildete. Ein antikes Arschgeweih sozusagen. Bei der Rekonstruktion dieses Tattoos verwendeten die Wissenschaftlerinnen gleiche Darstellungen, wie sie sie auf anderen Artefakten in Deir el-Medina gefunden hatten. So verpassten sie der Figur des Bes bspw. eine vierfedrige Krone, wie man sie auf den Oberschenkeln von Frauendarstellungen (z.B. in TT341) kennt. Die Darstellung des parfümierten Kegels ist in Deir el-Medina übrigens auch von Ostraka, die mit dem Geburtsprozess in Verbindung stehen, bekannt (mehr zur möglichen Bedeutung der ikonografischen Elemente weiter unten).

Das Tattoo über dem Po – Wer hat’s erfunden?

Auf einer anderen weiblichen Mumie des Neuen Reichs – hier ist der untere Torso samt der Oberschenkel erhalten – findet sich ein weiteres längliches Tattoo auf dem unteren Rücken. Da hier mehr Gewebe vorhanden ist als auf dem voran beschriebenen Hüftknochen, ist hier auch ein größerer Teil der Tätowierung zu sehen. Im Gegensatz zum ersten Artefakt kann man die Tätowierung hier allerdings nicht mit bloßem Auge, sondern erst auf einer Infrarotfotografie erkennen (unteres Bild).

Unterkörper der Mumie 356.19.001, Tätowierung nur sichtbar auf Infrarot-Fotografie. Fotos: A. Austin
Rekonstruktion der Tätowierung 356.19.001, schwarz: vorhandenes, hell: vermutetes Tattoo. Zeichnung: A. Austin

Das Tattoo zeigt zwei geometrische, horizontal verlaufende Streifen, von denen der untere mit Punkten, der obere mit einer Zickzack-Linie dekoriert ist. Seitlich wird das Tattoo durch die Darstellung eines Blumenstraußes und eines Steinbockes begrenzt. In der Ikonografie des Neuen Reichs ist der Steinbock oft neben Bouquets von Papyrus oder Lotus abgebildet, weshalb man auch diese stilisierte Zeichnung neben dem Steinbock als Strauß von Lotusblumen deuten kann.
Über den zwei Streifen findet sich das Symbol des Udjatauges und ein weiteres Element dazwischen, dass die Forscherinnen nicht eindeutig zuordnen können – evtl. ebenfalls ein Bes-Abbild.

Tattoodarstellungen auf weiblichen Statuetten

Und jetzt wird es richtig interessant: Im Papier der beiden Wissenschaftlerinnen wird erstmals eine Verbindung zwischen den auf Mumien gefundenen Tätowierungen und Darstellungen davon auf Statuetten aufgezeigt. Eines der wohl aufregendsten Artefakte in diesem Zusammenhang ist die mit DEM (Deir el-Medina) 2020_M23_099 bezeichnete Figurine. Wann und wo genau diese nur 5,2 cm große Figur in Deir el-Medina ursprünglich gefunden wurde, ist leider unbekannt. Sie lag seit den 1950er Jahren zusammen mit vielen weiteren Objekten, die meist aus den Häusern der Arbeiter stammen, in einem Lagerraum, wo sie im Januar 2020 von Dr. Marie-Lys Arnette, deren Forschungsschwerpunkt die weiblichen Figurinen in Deir el-Medina sind, wiederentdeckt wurde.

Figurine einer schwangeren Frau mit Tattoos. DEM_2020_M23_099. Fotos: I. Ibrahim (li+mi), M.-L. Arnette (re)

Von der aus dunklem Ton geformten Darstellung eines weiblichen Körpers ist nur der Oberkörper, vom Hals bis zu den Oberschenkeln, und ein Arm erhalten. Die dunkle Farbe und der Glanz der Oberfläche machen es wahrscheinlich, dass diese Statuette gebrannt wurde, was für handgeformte Objekte in Deir el-Medina ungewöhnlich ist. Die linke Hand der dargestellten Frau liegt seitlich an ihrem gewölbten Bauch, so dass die Vermutung nahe liegt, dass es sich hier um das Abbild einer Schwangeren handelt. Obwohl die Darstellung von schwangeren Frauen in der ägyptischen Kunst äußerst selten ist, fand man hier in Deir el-Medina gleich ca. 30 solcher handmodellierten Figurinen, die Schwangere darstellen. Sie wurden vermutlich nicht in einer professionellen Töpferwerkstatt, sondern von den Arbeitern selbst hergestellt. Und sie zeigen eine Ikonografie, die so wohl noch nirgends gefunden und dokumentiert wurde.

Oberschenkel mit Bes-Tattoo. Foto: I. Ibrahim

Auf der Vorderseite des Halses sind mit einem spitzen Gegenstand sechs Punkte eingestochen, die kreisförmig um einen zentralen, siebten Punkt angeordnet sind. Zwei runde, angesetzte Tonkugeln stellen die Brüste dar, der Nabel wurde mit einer dünnen Röhre – vielleicht einem Pflanzenstengel – auf dem Bauch markiert.
Das breite Schamdreieck ist ebenfalls mit kleinen, eingestochenen Punkten versehen, welche die Schambehaarung darstellen. Einritzungen auf den Oberschenkeln zeigen das stilisierte Motiv eines kauernden Bes, mit gebeugten Beinen, den Händen auf den Hüften und einer Krone mit drei langen Federn auf dem Kopf. Darstellungen mit dieser Art der Krone sind seit der frühen 18. Dynastie bekannt und wurden unter Amenhotep III. besonders beliebt, so dass die Statuette aus dieser Zeit oder später sein müsste.

Unterer Rücken der Figurine. Foto: I. Ibrahim

Genauso interessant wie die Vorderseite ist aber auch die Rückseite der Figur. Über den leicht gerundeten Pobacken verläuft ein rechteckiges Band, das ein Rauten- oder Zickzackmuster enthält. Darüber stehen Dreiergruppen von Strichen; jeweils ein senkrechter und rechts und links daneben zwei schräg verlaufende Striche. Diese könnten sehr wohl stilisierte Lotusblumen sein, die über der Zickzacklinie – dem Symbol für Wasser – eine Nilszene darstellen. Und da sehr ähnliche Motive auch in den mumifizierten Tätowierungen vorkommen, schlussfolgern die Forscherinnen, das es sich auch bei der Zeichnung auf dieser Statuette um die Darstellung eines Tattoos handelt, zumal sie zwei weitere, allerdings kleinere Bruchstücke von weiblichen Figurinen gefunden haben, die auf der Rückseite ebenfalls Spuren des Zickzackmusters aufweisen.

Bruchstück einer Figurine, Deir el-Medina. Foto: M. Louys, Zeichnung: M.-L. Arnette

Die Punkte und ihre Bedeutung

Weibliche Figurinen tragen häufig Punkte auf dem Körper, die allerdings nicht einfach als Abbilder von Tattoos angesehen werden können. In Deir el-Medina werden diese Punkte verwendet, um bei Statuetten die Scham oder einen Hüftgürtel darzustellen; manchmal sind sie auch kreisförmig um den Nabel herum angeordnet oder formen sich kreuzende Bänder auf der Brust, den Armen oder Beinen. Manchmal finden sich diese Punkte sogar auf dem ganzen Körper, ähnlich wie bei den Fayence-Figurinen, die „talismans d’heureuse maternité“ genannt werden und zu einer glücklichen Schwangerschaft und Geburt verhelfen sollten. Vielleicht waren also auch die Punkte auf den weiblichen Statuetten – und auch die in wirklichen Tätowierungen – mit der Hoffnung oder dem Wunsch verbunden, Schutz für die Mutterschaft zu erhalten.

Frontseite der Figurine DEM_2020_M23_099 mit Punkten am Hals. Foto von I. Ibrahim (Ausschnitt)

Auf der kleinen Figurine DEM_2020_M23_099 sind die kreisförmigen Punkte am Hals auffällig. Nicht nur wegen der Position, die ja mit Geburt oder Mutterschaft nur schwer in Zusammenhang gebracht werden kann, sondern auch wegen der Anzahl Sieben. So wurden in Deir el-Medina auch Halsbänder aus Fasern gefunden, die sieben Knoten enthielten, an denen kleine, magische Papyri hingen. Diese Halsbänder wurden von Kranken getragen, die sich davon Heilung versprachen, indem z.B. die sieben Öffnungen des Kopfes geschützt werden sollten. Im magischen Papyrus von Turin wird z.B. auch von den „sieben Knoten des Horus“ gesprochen. Es gibt aber auch andere Anzahlen von Knoten an Halsketten und genauso auch an Punkten auf weiblichen Figurinen in Deir el-Medina, so dass die Zahl Sieben nicht überbewertet werden sollte.

Andere Objekte mit Tattoo-Darstellungen

Dass es solche Tattoos aber nicht nur in Deir el-Medina gab, zeigen zwei in Amarna gefundene Spiegelgriffe, die wie Frauenkörper gestaltet sind und die heute im Brooklyn Museum in New York bewundert werden können (siehe hier). Beide zeigen Frauen mit Tätowierungen am unteren Rücken und mit tätowierten Oberschenkeln; eine davon trägt klar ein Bes-Tattoo.

Auch ein Schminklöffel unbekannter Herkunft aus Elfenbein und Ebenholz, der eine nackte Schwimmerin darstellt, die eine Lotusblume hält – heute im Besitz des Moskauer Puschkin Museums (siehe hier) –, zeigt eine Tätowierung auf dem unteren Rücken des Frauenkörpers. Das Tattoo stellt ein Papyrusdickicht dar, welches auf beiden Seiten von Steinböcken angefressen wird. Die Papyruspflanzen wachsen dabei aus einer Zickzacklinie hervor, die vermutlich das Wasser darstellen soll. Ebenfalls trägt die Frau zwei Bes-Abbildungen auf den Oberschenkeln.

Die einzelnen ikonografischen Elemente

Der Steinbock

Ein wiederkehrendes Motiv ist der Steinbock. Im Neuen Reich findet er sich im Zusammenhang mit Lotus- oder Papyruspflanzen häufig auf kleinen Luxusgegenständen. Auf dem erwähnten Schminklöffel ist er z.B. in eine stilisierte Marschlandschaft eingebunden. In Deir el-Medina fanden die Forscherinnen den Steinbock im Tattoo eines weiblichen Torsos (s.o.) ebenfalls neben einem Bouquet, das vermutlich Lotusblumen darstellen soll. Nun lebt der Steinbock in den Bergen der Wüste und nicht am Wasser, wo Lotus und Papyrus wachsen. Seine Bedeutung in diesem ungewöhnlichen Kontext ist daher vielleicht eine leicht erotische. So findet sich im Grab des Nachtamun (TT341) das Bild einer nackten Musikerin, die tätowierte Oberschenkel hat und auf einer Lyra mit einem Steinbockkopf spielt. Die erotische Komponente ist hier nicht zu übersehen. Einige Forscher bringen den Steinbock wegen seiner ungezügelten Sexualität auch mit Fruchtbarkeit in Verbindung.
Außerdem wird der Steinbock auch mit Mutterschaft assoziiert. Eine Vase aus dem Neuen Reich, die im Louvre steht, zeigt ein Muttertier mit einem Kalb. Ebenfalls aus dem Louvre ist eine Darstellung des Gottes Bes bekannt, der ein Kleinkind stillt und dabei einen Steinbock auf den Schultern trägt. Es könnte also eines dieser drei Themen – Erotik, Fruchtbarkeit oder Mutterschaft – sein, das mit dem Bild eines Steinbocks in Tätowierungen dargestellt werden soll.

Der Gott Bes

Dieser Schutzgott (eine Beschreibung findet ihr in unserer Götterliste) taucht häufig in Tätowierungen auf. Seine Darstellung in solchen Tattoos, aber auch auf kleinen Figuren oder auf Scherben, sogenannten Ostraka, ist häufig stark vereinfacht. Im simpelsten Fall reichten vier oder fünf Striche. Die nachfolgende Tabelle gibt einige sehr unterschiedliche Bes-Darstellungen wieder; die letzten beiden sind von den oben vorgestellten Artefakten, einmal vom mumifizierten Hüftknochen (os coxa) und einmal von der weiblichen Figurine.

Bes-Tattoos auf Artefakten aus Deir el-Medina und der Region Theben. Zeichnungen © Anne Austin
Bild des Gottes Bes in Dendera. Foto: selket.de

Bes-Tattoos fand man bisher immer auf den Oberschenkeln. Anne Austin und Marie-Lys Arnette stellen in ihrer Arbeit den ersten bekannten Fall vor, in dem ein Bes-Tattoo an einer anderen Stelle – nämlich auf der rückwärtigen Hüftseite – auftaucht. Nun sind Bes-Darstellungen in Deir el-Medina sehr geläufig, besonders auf Ostraka. Meist wird er im Zusammenhang mit Frauen und Betten dargestellt. Entweder haben die Beine des Bettes die Form von Bes oder er steht tanzend neben dem Bett der Frau. In den meisten Fällen steht neben ihm ein Topf, aus dem ein Hügel von parfümiertem Fett herausragt. Das Tattoo auf dem einzelnen Hüftbein zeigt ja ebenfalls diesen Zusammenhang.
Da Bes auch eine Eigenschaft als Schutzgott der Schwangeren und Gebärenden hatte, könnte der Topf mit Fettparfum mit dem Thema Wochenbett zusammenhängen, wo bestimmte Riten zur Reinigung und Wiederherstellung durchgeführt wurden. Parfümiertes Fett war eines der Geschenke, die eine junge Mutter am Ende dieser Riten im Wochenbett erhielt, zusammen mit einem Spiegel und einem Topf mit schwarzem Khol (Kajal), bevor sie wieder in die Gemeinschaft zurückkehrte.
Bes zusammen mit einem Fetttopf, wie im ersten oben aufgeführten Tattoo dargestellt – und dazu noch an dieser speziellen Körperstelle, dem unteren Rücken –, könnte sich also auch auf die erste Phase nach der Geburt beziehen, wenn die größte Gefahr vorüber war, aber die Mutter noch genesen musste.

Die Marschlandschaft

Das Motiv der Marsch – Wasser mit Papyrusdickicht oder Lotusblumen – taucht in denjenigen Tattoos auf, die als Streifen direkt über dem Po tätowiert wurden. Dieselben Motive an derselben Stelle finden sich nach dieser Forschungsarbeit auch an kleinen, weiblichen Figurinen, nämlich ein Zickzackmuster mit etwas, das darüber wächst. Auch an den oben beschriebenen Museumsobjekten, den Handspiegeln und dem Kosmetiklöffel, wurde diese Verbindung zu Wasser oder der Marsch dargestellt. Aber warum genau an dieser Körperstelle?

Da die Lowcut-Jeans vor 3500 Jahren noch nicht erfunden war, wird das Tattoo durch die Alltagskleidung der Ägypterinnen des Neuen Reichs verdeckt worden sein. Körperschmuck oder die sichtbare Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe als Grund für die Tätowierung scheiden daher vermutlich aus. Bleibt eine magische oder prophylaktische Funktion des Tatoos. Die Platzierung auf dem unteren Rücken spricht dafür, dass es vielleicht eine solche Funktion gab, denn Schmerzen im unteren Rücken sind eine häufige Begleiterscheinung während der Schwangerschaft und besonders in den Wehen. Bilder von kühlem, frischem Wasser und der Gedanke an ein schattiges Plätzchen am Nil sollten hier vielleicht den Schmerzen entgegen wirken und Erleichterung bringen. Vielleicht wollte man aber auch den „brennenden Schmerzen“ der Menstruation das kühlende Wasser entgegen stellen – im medizinischen Papyrus Ebers gibt es einige Passagen mit diesem Zusammenhang. Und in den Sargtexten gibt es eine Formel, in der vom „Feuer im Rücken“ bei der Geburt gesprochen wird.

Welche Funktion hatten die Tatöwierungen?

In den voranstehenden Absätzen gibt es ein paar nachvollziehbare und logisch klingende Erklärungen für diese Tätowierungen. Aber – und die Forscherinnen werfen diese Frage in ihrem Papier selbst auf – wenn ägyptische Frauen daran glaubten, dass bspw. eine Tätowierung am unteren Rücken Schutz und Hilfe bei Menstruations- und Geburtsschmerzen bot, warum trugen dann nicht viel mehr Frauen solche Tattoos? Es gibt zahllose Darstellungen in den Gräbern des Neuen Reichs, in denen nackte oder nur mit einer Perlenkette um die Hüften bekleidete Frauen tanzen, musizieren oder bei Festen bedienen. Bei keiner findet sich ein tätowierter unterer Rücken. Und Gleiches gilt, wenn die Tattoos vielleicht Fruchtbarkeit bringen oder die Heiratsfähigkeit signalisieren sollten: Es müssten dann viel mehr Frauen so tätowiert sein.

Die Wissenschaftlerinnen können zu diesem Zeitpunkt ihrer Forschung diesbezüglich selbst nur spekulieren. Vielleicht trugen nicht alle, sondern nur solche Frauen diese Tätowierungen, die in den Geburtsprozess involviert waren, also z.B. Hebammen oder diejenigen Frauen, die an den Geburtsritualen teilnahmen. Früher in Deir el-Medina gefundene Tattoos waren mit der Göttin Hathor verbunden, die hier vorgestellten Tätowierungen zeigen Bes. Beide Götter schützten Frauen im Allgemeinen und Schwangere im Besonderen. Von so tätowierten Frauen umgeben zu sein, sollte vielleicht die werdende Mutter schützen.

Da die weiblichen Statuetten, die ähnliche Tattoos wie die Frauenmumien tragen, sehr klein sind, könnte es sein, dass diese beim Geburtsprozess verwendet wurden. Vielleicht hielt die Gebärende die kleinen Figurinen während der Wehen in der Hand, oder die Ritualfrauen taten dies. Damit wären die Figurinen nicht nur Talismane, die irgendwo im Regal standen, sondern Instrumente der Geburtshilfe, und zugleich auch exakte Abbilder der realen Frauen, die der werdenden Mutter halfen.

Für die Figurinen mit dargestellten Tattoos könnte es aber auch folgende Erklärung geben: Das Tätowieren und das Einritzen einer Zeichnung in eine Tonfigur sind sehr ähnliche Akte, nämlich wiederholtes Einstechen in einen Körper, das darauf eine permanente Markierung hinterlässt. Zur damaligen Zeit war das Tätowieren sicher noch mit Risiken verbunden, wie entstehenden Blutungen oder Infektionen. Vielleicht war das „Tätowieren“ der Tonfigur eine Ersatzhandlung, die einen ähnlichen Schutz versprach, wie ein echtes Tattoo auf der Haut? Oder war die Figurine vielleicht der „Vorläufer“ der echten Tätowierung – frei nach dem Motto: Wenn die Zeichnung auf der Tonfigur erfolgreich war, dann würde auch die tatsächliche Tätowierung ohne Komplikationen vonstatten gehen?

Die Autorinnen Anne Austin und Marie-Lys Arnette geben zu, dass all diese Interpretationsversuche reine Hypothesen sind, die sich aktuell weder be- noch widerlegen lassen. Sie wollen damit aber die Debatte befeuern darüber, welchen Zusammenhang es zwischen den Tätowierungen und ihrem Zweck, sowie zwischen Tattoos auf Frauenkörpern und den sehr ähnlichen Einritzungen auf weiblichen Figurinen geben könnte.
Weitere Forschung zu diesem Themenkomplex ist also nötig und eine neue Veröffentlichung über Figurinen von schwangeren Frauen in Deir el-Medina ist auch bereits angekündigt. Wir freuen uns schon darauf!


Die meisten Informationen in diesem Artikel stammen aus: Austin, A., & Arnette, M.-L.: »Of Ink and Clay: Tattooed Mummified Human Remains and Female Figurines from Deir el-Medina«, The Journal of Egyptian Archaeology, Oktober 2022, https://doi.org/10.1177/03075133221130089.
Wir bedanken uns bei Dr. Anne Austin und Dr. Marie-Lys Arnette für die Erlaubnis zur Verwendung der Bilder und die Beantwortung unserer Fragen!

1 Gedanke zu „Tätowierungen an Mumien und an Tonfiguren in Deir el-Medina“

  1. Vielleicht sollte mit den Tattoos besonders schutzbedürftigen Frauen geholfen werden? Welchen mit starken Menstruationsbeschwerden oder vielen Fehl- oder Totgeburten?

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