In einer neuen Studie beschäftigen sich Prof. Frank Rühli und Dr. Roger Seiler vom Institut für Evolutionäre Medizin (IEM) der Universität Zürich mit der Frage, warum bei so vielen Mumien die vorderen Zähne beschädigt oder sogar ausgebrochen sind. Das bekannte und in Schrift und Bild gut dokumentierte Mundöffnungsritual, mit dem der Verstorbene seine Fähigkeiten zu atmen, zu essen und zu sprechen für das jenseitige Leben wiedererlangen sollte, kann dafür eigentlich nicht verantwortlich sein, da es ein rein symbolischer Akt war, der an fertig eingewickelten Mumien kurz vor dem Begräbnis, oder auch an Statuen nach ihrer Aufstellung, vollzogen wurde. Die Schäden an den Frontzähnen deuten aber auf ein tatsächliches, gewaltsames Öffnen des Mundes hin, das dann vermutlich während der Mumifizierung stattfand.
Jede 10. Mumie mit beschädigten Zähnen
Im seit etwa 20 Jahren bestehenden „Swiss Mummy Project“ der Züricher Universität sind die Zahnbilder von inzwischen 51 Mumien katalogisiert. Für diese neue Studie untersuchte man nun zusätzlich mehr als 100 altägyptische Schädel aus einer Sammlung des Anthropologischen Instituts und Museums der Züricher Uni. An etwa 15 Schädeln bzw. Mumien, also bei etwa jedem 10. Gebiss, fand man gebrochene oder ganz ausgeschlagene Vorderzähne, deren Schäden nicht zu Lebzeiten sondern klar post mortem entstanden waren. Bei einigen der Mumien waren die Zähne oder Bruchstücke nach hinten in den Mundraum gerutscht, wo sie nur mithilfe von CT-Scans sichtbar gemacht werden konnten. Besonders gut sieht man das auf den Scans einer unbekannten männlichen Mumie aus dem Kantonalen Museum für Archäologie und Geschichte in Lausanne (siehe Titelbild).
Schäden an den Frontzähnen von Mumien sind nichts Neues. Schon in den 70er Jahren berichteten verschiedene Forscher, dass sie abgebrochene Zähne oft weit hinten im Rachen fanden. Sie vermuteten, dass die Zähne irgendwann während der verschiedenen Mumifizierunsschritte in Mitleidenschaft gezogen worden waren – vielleicht einfach nur, damit der Einbalsamierer mehr Platz im Mundraum hatte. Bei so vielen gleichartigen Zahnschäden stellten sich die Züricher Wissenschaftler nun die Frage, ob es während des Mumifizierungsvorgangs irgendeinen bestimmten Zeitpunkt gab, an dem solche Schäden entstehen konnten oder sogar vorprogrammiert waren.
Einbalsamiert auch im Mund
Leider ist der Vorgang der Einbalsamierung am menschlichen Körper nirgendwo vollständig beschrieben. Aus vielen verschiedenen Einzelquellen kann man jedoch schließen, dass der Leichnam nach der Austrocknungszeit im Natronsalz und vor der Umwicklung mit den Mumienbinden noch einmal gewaschen und eingeölt wurde. Dies diente nicht nur der Reinigung und dem Wohlgeruch sondern gab den steifen Körpern auch eine gewisse Flexibilität zurück. Aus zwei Papyri des Kairoer Museums und des Pariser Louvre lässt sich herauslesen, dass der Kopf zu diesem Zeitpunkt der Mumifizierung mehrfach eingeölt wurde und dabei auch zwei Bandagen im Mundraum platziert wurden. Zusätzlich wurde eine Tinktur, der sogenannte „Erguss des Schu“ (Gott der Luft), in den Hals geträufelt und die großen Öffnungen des Kopfes mit einem Harz verschlossen.
Eine recht genaue Beschreibung des Einbalsamierungsvorgangs findet sich im Papyrus Wien 3873, der aus dem 2. Jh. v.Chr. stammt. Hier wird die Prozedur zwar für den als Gottheit verehrten Apis-Stier beschrieben, aber bei hochrangigen Ägyptern wurde es vermutlich ähnlich aufwändig gemacht. Danach griff der Einbalsamierer tief in den Mund des toten Stiers hinein. Er legte zwei Binden auf den Rachen, und jeweils zwei auf Ober- und Unterkiefer. Und an anderer Stelle heißt es, dass zwei Assistenten den Mund des Gottes (Stieres) öffneten, damit der „Aufseher der Mysterien“ – das war der Chefeinbalsamierer, der für den Kopf der Mumie zuständig war – ihn von innen einbalsamieren konnte, und zwar so weit, wie er mit seiner Hand hineinreichen konnte.
Hilfsmittel zur Mundöffnung
Damit bei einer bereits getrockneten Mumie der Mund weit genug geöffnet werden konnte, um die Einbalsamierungsarbeiten vornehmen zu können, wurde ein Hilfsmittel benötigt. In der Beschreibung der Balsamierung des Apis-Stiers wird die Verwendung von zwei Meißeln genannt, mit denen die Kiefer auseinandergespreizt wurden. Ähnliche Hilfsmittel wurden auch von Ärzten verwendet, um den Mund eines Patienten während einer Behandlung geöffnet zu halten. Die Balsamierungsbinden wurden dem Stier dann tief in den Hals geschoben, bis hin zu den Öffnungen von Luft- und Speiseröhre – also genau dorthin, wo bei der Mumie aus Lausanne die Zähne gelandet sind.
Mundöffnungsprozedur vs. -ritual
Die Instrumente, mit denen das zeremonielle Mundöffnungsritual an den zu begrabenden Mumien – oder manchmal auch an Statuen – vollzogen wurde, waren metallene Dechsel oder das sogenannte Fischschwanz-Messer. Die Wissenschaftler glauben, dass diese Werkzeuge jenen nachempfunden waren, mit denen während der Mumifizierung die tatsächliche Mundöffnung an den erstarrten Leichnamen vorgenommen wurde. Diese Mundöffnung geschah vermutlich in der bereits angesprochenen Phase, in der die durch Natronsalz ausgetrockneten Körper erneut gewaschen und gesalbt wurden. Denn um auch den Mundraum einbalsamieren zu können, musste dieser zunächst mit entsprechenden Instrumenten geöffnet werden. Und dabei wurden anscheinend öfters die vorderen Zähne in Mitleidenschaft gezogen.
Um diesen tatsächlichen Mundöffnungsvorgang vom rein symbolischen Mundöffnungsritual abzugrenzen, schlagen die Forscher vor, ihn zukünftig als „Mundöffnungsprozedur“ zu bezeichnen.
Wir bedanken uns bei den Herren Rühli und Seiler für die Unterstützung und besonders für das zur Verfügung gestellte Bild!